Ein Erfahrungsbericht über die ersten beiden Jahre
Rückblick auf die Entstehung und den ersten Durchgang
Begonnen hat alles mit einem Telefonat mit einer Freundin im März 2014, die mir von einem Kollegen an ihrer Schule berichtete, der selbst produzierte Erklärvideos in seinem Mathematikunterricht einsetzt. Begeistert von der Idee meinen bis dato traditionell durchgeführten Mathematikunterricht mit Hilfe von Erklärvideos im Sinne meiner SchülerInnen „aufzupeppen“, recherchierte ich zunächst nach dem dahinter stehenden Konzept „Flipped Classroom“, den entsprechenden Tools zur Videoproduktion sowie möglicher Wege zur Bereitstellung für meine Schülerinnen und Schüler.
Ende März 2014 begann ich voller Enthusiasmus mit der Vorarbeit für den Start in meinen „180grad-flip“. Im Hinterkopf habend, dass ich im Schuljahr 2014 / 2015 mit meinen Klassen 9 und 10 starten wollte, ging es für mich zunächst in den Monaten März bis August an die Videoproduktion und –bereitstellung. Rückblickend betrachtet stelle ich fest, dass dieser Anspruch zwei Klassen gleichzeitig „umzudrehen“ von den zeitlichen Ressourcen her betrachtet völlig überzogen war. Daher rate ich interessierten Kollegen, die einen eigenen Start in Erwägung ziehen, in meinen Workshops mittlerweile dazu, anfangs lediglich eine Klasse bzw. eine Einheit zu „flippen“. Vor allem zu Anfang der Umsetzung (aber auch teilweise jetzt noch, trotz der mit der Zeit kommenden Routine) beansprucht der Prozess von der Entwicklung bis hin zum auf der eigenen Lernplattform eingebetteten Video einen enormen Zeitaufwand. Häufig werde ich gefragt, wie lange ich für die Produktion und Bereitstellung eines Videos brauche, was ich nur schwer mit konkreten Zahlen belegen kann, da ich meine Videos immer einheitenweise produziere:
Im ersten Arbeitsschritt entwickle ich immer alle für die Unterrichtseinheit relevanten Powerpointfolien, die die Grundlagen meiner Videos darstellen.
Im zweiten Arbeitsschritt produziere ich meine Videos mittels einer Screencastsoftware (früher Bandicam, heutzutage Camtasia) und eines USB-Mikrofons (Blue Yeti).
Im dritten Arbeitsschritt lade ich alle Videos auf meinen Youtube – Kanal (zu Anfang des Projekts auf Vimeo) hoch und lege sie in die entsprechenden Playlists ab.
Im vierten Arbeitsschritt erfolgt die Einbettung auf meiner Lernplattform "180grad-flip" .
Bezüglich der Länge eines Videos habe ich mich in dieser ersten Großproduktion an die Faustregel „Videolänge = Klassenstufe * 1-1,5 Minuten“ gehalten und versucht mich am „schwachen“ Schüler zu orientieren, was eine sehr kleinschrittige Vorgehensweise mit sich brachte.
Nach vier extrem arbeitsreichen Monaten mit vielen Nachtschichten sind etliche Videos (leider bei weitem nicht alle) mit den Inhalten für die Mathematik in den Klassen 9 und 10 der Realschule entstanden und ich war bereit für den Schritt in meinen Flipped Classroom „180grad-flip“:
Zu Beginn des Schuljahres 2014 / 2015 änderte sich also mein Mathematikunterricht grundlegend. Meine Schüler, deren Eltern und auch ich sprangen ins kalte Wasser und wir starteten von 0 auf 100 in das Unterrichten nach dem Flipped Classsroom Konzept. Es war mir wichtig, alle Beteiligten ins Boot zu holen und das Vorhaben jedem vollständig transparent zu machen: Meinen SchülerInnen erläuterte ich ausführlich den Nutzen für Ihr Lernen bzw. die Vorteile, die der umgedrehte Unterricht mit sich bringt.
Die Eltern wurden von mir in den Klassenpflegschaften eingehend über das Vorhaben informiert und standen diesem, bis auf vereinzelte Zweifler, sehr aufgeschlossen gegenüber, was mich in meinem Tun bestärkte und eine solide Basis für die praktische Umsetzung bot.
Ohne Umschweife stellten sich meine SchülerInnen auf den umgedrehten Unterricht ein, was Resümee ziehend zwar recht gut geklappt hat, jedoch in meiner persönlichen Evaluation am Ende des ersten Jahres für das Folgejahr einer Optimierung bedurfte, da die Umstellung auf das Konzept ein enormes Maß an Selbstständigkeit bzw. Selbstorganisation von den SchülerInnen einforderte. So bemerkte ich im ersten Durchgang, dass diese Umstellung nicht pauschal auf jeden Realschüler diesen Alters übertragbar wäre und ich im Folgejahr meine SchülerInnen mehr „an die Hand“ nehmen müsste, um deren Einstieg in ein selbstorganisiertes Lernen unterstützt durch Erklärvideos zu erleichtern. Mit dem Druck einer gelingenden Abschlussprüfung im Nacken und der ständigen Angst den „Notausschalter“, das Aus des Vorhabens, drücken zu müssen, meisterten meine SchülerInnnen jedoch das Jahr, den Umstieg auf „180grad-flip und damit verbunden die Abschlussprüfung erfolgreich.
Zusammenfassend war das erste Jahr bzw. der erste Durchlauf insgesamt betrachtet erfolgreich, jedoch geprägt von einem enormen Arbeitsaufwand, der sehr fokussiert auf die Produktion der noch ausstehenden Videos war. Es erfolgte über das ganze Jahr eine komplette Auslagerung aller Inputphasen, also der klassische Flipped Classroom in seinen Grundgedanken.
Um den zeitlichen Arbeitsaufwand bei der Bearbeitung der Videos seitens der Schüler im Rahmen zu halten, bekamen meine Schüler zu jeden Video ein sogenanntes „Handout“ (die wichtigsten Folien der Präsentationen gekürzt, quasi eine Art Lückentext), um ihnen so eine gewisse Struktur durch die Kapitel zu geben. Da die Videoproduktion in diesem Schuljahr wie oben erwähnt noch in vollem Gange war, wurden diese Handouts Morgen für Morgen von mir kopiert und anschließend im Unterricht zur Vorbereitung der Folgestunde ausgeteilt. In der Präsenzphase, dem Unterricht in der Schule, wurden die früheren Hausaufgaben vor allem in Einzel- und Partnerarbeit begleitet und individuell von mir unterstützt bearbeitet.
Parallel zum spannenden, aufregenden, erkenntnisreichen ersten Durchlauf mit meinen Schülern, lernte ich vor allem über Twitter viele interessante Kollegen bzw. Mitstreiter in Bezug auf den Flipped Classroom kennen und schätzen. Allen voran entwickelte sich neben der gemeinsamen Passion für den Flipped Classroom und dessen Weiterentwicklung eine Freundschaft zu dem eingangs erwähnten inspirierenden Kollegen, Sebastian Schmidt (flippedmathe). In vielen Telefonaten und auch persönlichen Treffen fand und findet ein ausgiebiger Austausch über den Flipped Classroom und dessen didaktischer und methodischer Umsetzung statt. Viele Gedanken und Ideen werden von der jeweils anderen Seite intensiviert und weitergedacht, was sich als sehr wertvoll und gewinnbringend erweist.
Aufgrund des stetig wachsenden Interesses am Konzept des Flipped Classroom, sowohl in den Social Media als auch im Reallife, kamen wir, Sebastian und ich, gemeinsam mit Felix Fähnrich und Carsten Thein auf die Idee das Netzwerk „Umgedrehter Unterricht“ zu gründen. Das Ziel der Plattform besteht darin, Interessierten eine Anlaufstelle zu bieten und neu entstehende Projekte an einem zentralen Ort für die Allgemeinheit zu bündeln.
Weiterentwicklung bzw. Optimierung für einen gelingenden zweiten Durchgang
Hochmotiviert begannen die Sommerferien und damit eine aus den Eindrücken des vorherigen Schuljahres in meinen Augen zwingend notwendige Optimierung und Weiterentwicklung meines Flipped Classrooms. Die selbstgesteckte To Do Liste war lang und musste zwecks eines gelingenden erfolgreichen zweiten Durchgangs zügig abgearbeitet werden. Folgende Punkte und deren Umsetzung waren mir wichtig:
Anpassung der Videolänge:
Die oben genannte Faustregel stellt in meinen Augen eine gute Orientierungshilfe dar, muss jedoch aus meinen Erfahrungswerten heraus nach unten korrigiert werden. Ein 15 Minuten langes Video ist für einen Realschüler der 10. Klasse einfach zu lang. Ich stand also vor der Entscheidung, ob ich die Videos komplett neu aufnehmen muss oder eine andere Lösung finde. Da meine Videos meiner subjektiven Empfindung nach keiner Neuaufnahme bedurften, sondern in meinen Augen lediglich mit zu viel Inhalt gefüllt waren, entschied ich mich dazu, wenn möglich, lange Videos zu schneiden, um so die Inhalte häppchenweise zu verpacken.
Ein Paradebeispiel für eine in meinen Augen sinnvolle Aufteilung stellt das Video zur „Quadratischen Pyramide“ dar: Das ursprüngliche Video hat eine Gesamtlänge von 17,5 Minuten, gegliedert in eine Wiederholung der Prismenberechnung, der Einführung in Volumen- und Oberflächenberechnung der quadratischen Pyramide und einer zur Einführung passenden Beispielaufgabe – also einem „Rundumsorglospaket“ (wie ich bei der Erstproduktion dachte). Frei nach dem Motto „Aus 1 mach 3“ sind drei Videos mit den Längen 3, 10,5 und 5 Minuten entstanden, die nun natürlich in einem anderen methodischen Einsatz über mehrere Stunden ihre Anwendung finden.
Nach diesem Schema bin ich bei allen Videos, bei denen es möglich war, verfahren, sodass alle zu diesem Zeitpunkt bereits produzierten Videos die 10 Minuten Grenze ganz selten überschreiten. Bei meinen im Schuljahr 2015 / 2016 neu produzierten Videos, habe ich die Länge der Videos nochmals gedrosselt, damit diese alle zwischen 3 – 7 Minuten lang sind, was ich mittlerweile als ideale Videodauer betrachte. (z.B. Das Thema „Kreis“ in 9 Videos mit einer Gesamtlänge von knapp 35 Minuten)
Überarbeitung des Homepagelayouts und interaktive Ergänzungen:
Angetrieben von einem nicht unbedingt immer sinnvollen Perfektionismus, überarbeitete ich die Struktur der Homepage, gab ihr ein komplett neues Layout. Wichtig bei der Umstrukturierung war mir, dass jedes Video eine eigene Seite bekam, damit ich passend zum Video langfristig die Möglichkeit habe würde, eventuell etwas zu ergänzen. Diese möglichen Ergänzungen fanden bereits in dieser Optimierung statt, da ich zum einen das Programm Geogebra und den Geogebratube für mich entdeckte und, sofern passend und sinnvoll, die einzelnen Videoseiten mit Geogebraarbeitsblättern, die die in den Videos erklärten Sachverhalte nochmals veranschaulichen, ergänzte (z.B. wie hier). Zum anderen gefielen mir die interaktiven Lerndateien von Dieter Welz, welche ich nach Rücksprache, bei passenden Videos als optionale, zusätzliche Übungsmöglichkeit für meine SchülerInnen verlinkte.
Stärkere Fokussierung auf die Individualisierung des eigenen Lernprozesses:
Um die Individualisierung und die selbstorganisierte Gestaltung des eigenen Lernprozesses meiner SchülerInnen auf eine neue Stufe zu heben, hatte ich mir für das zweite Jahr zum Ziel gesetzt, mit selbst entwickelten Skripten für jedes Kapitel zu arbeiten. Die Skripte sollten alle für das Kapitel relevante Handouts beinhalten, sowie Verweise auf entsprechend passende Aufgaben im Buch etc. inklusive Lösungen geben. Der Vorteil, den ich mir hiervon erhoffte und der sich auch bewahrheitete, war die Möglichkeit für fleißige SchülerInnen „vorzuarbeiten“, also ihren Lernprozess und –gang selbst zu steuern. Der positive Nebeneffekt bzw. Entlastung für mich war die Tatsache, dass das tägliche Kopieren der Handouts in den Morgenstunden einem einmaligen größeren Kopiervorgang wich, der ein kontinuierliches Arbeiten für einige Wochen ermöglichte.
Da die zeitintensive Videoproduktion der Inhalte der Klassen 9 und 10 nun weitgehend beendet war, eröffneten sich für mich nun neue Zeitfenster, um mich verstärkt dem im Flipped Classroom wichtigsten Element, der sinnvollen Nutzung bzw. Gestaltung der Präsenzphase, zu widmen. Aufgrund dessen, dass es nun wegen der Einführung der Skripte SchülerInnen gab, die vorarbeiteten, ergab sich nun verstärkt die Möglichkeit der Tutorenarbeit, bei der feste Lernpartnerschaften gebildet wurden und stärkere SchülerInnen gezielt schwächeren SchülerInnen helfen konnten. Aufgrund des Zeitgewinns konnte ich nun die zeitintensive Methode des Aktiven Plenums häufiger zum Einsatz kommen lassen. Des Weiteren bot sich aufgrund des Zeitgewinns die Möglichkeit, dass meine SchülerInnen selbst Erklärvideos produzierten, um so mit den Inhalt nochmals mehr zu durchdringen.
Schrittweise Gewöhnung an das Arbeiten mit Erklärvideos
Obwohl sich der Wurf ins kalte Wasser im ersten Durchgang nicht negativ auf dessen Verlauf ausgewirkt hat, war mir wichtig, Folgeklassen schrittweise an das Arbeiten mit Erklärvideos zu gewöhnen. Hierfür entwickelte ich die „Flipgewöhnung“, welche ich im Schuljahr 2015 / 2016 erstmals mit meinen Klassen durchführte.
Resümee des zweiten Durchgangs
Der zweite Durchgang war, rein ergebnisorientiert betrachtet, in Klasse 10 wieder erfolgreich, da meine Klasse die Abschlussprüfung erfolgreich meisterte. Subjektiv gefühlt hatte ich im Vergleich zum Vorjahr jedoch mehr mit Motivationsproblemen einiger SchülerInnen bezüglich des gewissenhaften Bearbeitens der Videos zu kämpfen, was mich gezwungenermaßen dazu veranlasste Tests über die Inhalte der Videos zu schreiben, um so fleißige Schüler zu belohnen und den unvorbereiteten vor Augen zu führen, dass die Vorbereitung mittels Video für den Erfolg zwingend notwendig ist.
Im Vergleich dazu war ich mit der Projekteinführung und dessen weiteren Verlaufs in meiner 9. Klasse absolut zufrieden. Der Tutoreneinsatz erwies sich als sinnvoll, da die Tutoren ihre Aufgabe ernst nahmen und gewissenhaft ausführten. Das selbstständige Arbeiten entwickelte sich schrittweise, sodass die Weichen für eine erfolgreiche Fortführung des Konzepts in Klasse 10, in meinen Augen, gestellt wurden.
Auch parallel zum zweiten Durchlauf ereigneten sich in diesem Jahr einige aufregende Dinge. Neben etlichen Vorträgen und Workshops hinsichtlich des Flipped Classrooms und dem Gewinn des MINT Schulpreises, vertiefte sich der Kontakt zu einigen Flipper Kollegen, insbesondere Marcus von Amsberg (Ivi-Education). Bei seiner Anfrage nach einer möglichen Kooperation, war meine Antwort eine klare Sache (hier mehr).
Nach knapp zweieinhalb sehr intensiven, in jeglicher Hinsicht gewinnbringenden, aber auch extrem arbeitsreichen Jahren im Zeichen des Flipped Classrooms geht mein „180grad-flip“ nun in die dritte Runde. An ein Ausruhen auf bereits Bestehendem ist nicht zu denken:
Viele neue Ideen und Herausforderungen stehen vor mir und wollen im Einklang mit meinem Privatleben verwirklicht werden:
Der eigene Flipped Classroom - eine Never Ending Story.
Meine Konzepterweiterung bzw. -optimierung für das Schuljahr 2016 / 2017 steht und ist hier zu finden.
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